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SAVOIR-VIVRE

Wo die Zeit stillsteht

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Es gibt Cafés, die eine nostalgische Leichtigkeit verströmen.

Das «Odéon» in Biel ist eines davon.

Von Anina Frischknecht


 

Zum ersten Mal ins «Odéon» kam er wegen Carmen, damals vor 73 Jahren. Sie war die Frau des Patrons, eine Spanierin, schön wie ein Bild. Er, das ist Kurt Vogt, ältester Stammgast im «Odéon» in Biel. Geboren 1930, im gleichen Jahr, in dem das «Odéon» seine Türen öffnete, als erste eingetragene Bar der Schweiz.

Solchen Cafés mit Geschichte widmet sich der Schweizer Heimatschutz mit der Publikation «Die schönsten Cafés und Tea Rooms der Schweiz». 

Dunkelroter Samt, Marmortische und Kugelleuchten an floralen Messinghaltern, alles aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts. Das «Odéon» hat sich in seiner fast 90-jährigen Geschichte nur wenig verändert. Noch immer steht in geschwungener Leuchtschrift über der Tür: «À l’Odéon tout est bon». Noch immer kommen die Stammgäste jeden Morgen für den Kaffee, die Zeitung und die Geschichten von früher. An die schöne Carmen aber erinnert sich nur noch Kurt Vogt.Kurt Vogt erinnert sich gut. Er war 16 Jahre alt bei seinem ersten Besuch. Der Kaffee kostete 80 Rappen, das Bier 30 Rappen. Heute ist Vogt 89 Jahre alt. Er sitzt an seinem Lieblingsplatz am Fenster, vor sich eine heisse Schokolade. Draussen in der Morgensonne der Bieler Bahnhofstrasse reiht sich Café an Café. Doch für Vogt gibt es noch immer nur das «Odéon». «Ich wäre jeden Tag hier, wenn ich könnte. Hier ist die Zeit stehengeblieben.»

 

Von Blankochecks und Champagner 

«Die Stammgäste gehören zum Inventar. Ihre Geschichten auch.» Rolf Schädeli dreht seine Runden zwischen den jahrzehntealten Tischen und Bänken. Seit neun Jahren führen er und Nathalie Jeanrenaud das Café. Von den ältesten Gästen sind zahlreiche Legenden überliefert worden aus der Zeit, als die Uhrenindustrie noch Geld nach Biel und ins «Odéon» brachte. 

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«Hier haben sich fast 90 Jahre Geschichte abgespielt. Manchmal wünschte ich mir, diese alten Wände könnten sprechen.»

ROLF SCHÄDELI, GESCHÄFTSFÜHRER IM «ODÉON»

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Sie handeln von angetrunkenen Bankern, von Blankochecks und Immobiliendeals. Oder von einem Rolls-Royce-Fahrer, der zwei Flaschen Dom Pérignon bestellte, eine allein kippte und mit der anderen die Scheibenputzanlage seines Autos auffüllte. Auch Maler und Schriftsteller sollen im «Odéon» ein und aus gegangen sein. «Manchmal wünschte ich mir, diese alten Wände könnten sprechen.»

Neues muss draussen bleiben.

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Das «Odéon» von 1930 ist auch das «Odéon» von 2019. Dahinter stecken aber eine Menge Arbeit und Jahre sorgfältiger Pflege. Fast zwei Monate lang haben Schädeli und Jeanrenaud renoviert und restauriert, bevor sie das Café wiedereröffnen konnten. Sie schliffen das Holz und lackierten es. Sie bezogen Polster und verlegten Böden. Sogar die Tapete aus der Eröffnungszeit kam bei der Renovation hinter den Spiegeln wieder zum Vorschein. Heute hängt eine originalgetreue Kopie an der Wand, nachgedruckt von derjenigen Wiener Firma, die schon die ursprünglichen Tapeten produziert hat.

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Schädeli und Jeanrenaud sind erst die sechsten Patrons in der Geschichte des «Odéon». Die ersten zwei lächeln heute von einem Schwarzweissfoto hinter der Bar. «Das ‹Odéon› gehört noch zur alten Garde Cafés, die sich stur gegen Veränderungen wehren», sagt Schädeli. «Das hat mich schon immer gereizt. Neues will man hier gar nicht. Alles muss genau so sein wie immer.»

Cafés sind wie Zeugen aus einer anderen Zeit. 1720 eröffnete das älteste Kaffeehaus Europas, das Caffè Florian, am Markusplatz in Venedig. Es steht noch heute. Man erzählt, Frauenheld Casanova sei dort eingekehrt. Im Café Frauenhuber in Wien spielte Mozart. 

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Im «La Palette» in Paris diskutierten Cézanne, Picasso und Braque. Im «Odeon» in Zürich Einstein, Thomas Mann und Lenin. Das «Criterion» in London war Anfang des 20. Jahrhunderts der Treffpunkt der ersten Frauenrechtlerinnen. Die Kunst des Kaffeetrinkens ist sogar Unesco-würdig. Die internationale Organisation zeichnete die Wiener Kaffeehauskultur 2011 als immaterielles Kulturerbe aus. 

Die rote Oase

Heute in der Gastrokolumne: das Restaurant Odéon in Biel.

Von Simone Tanner

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A l’Odéon tout est bon», steht in grossen Lettern über der Eingangstür. Es steht da schon seit 84 Jahren. An Selbstbewusstsein hat es den Betreibern des Odéon nie gemangelt. Ob die Parole im Gründungsjahr 1930 hielt, was sie versprach, ist nicht überliefert. Es ist zu vermuten. Und heute?

2013 wurde das Lokal vom Schweizer Heimatschutz geadelt und fand Eingang in das Büchlein «Die schönsten Cafés und Tea Rooms der Schweiz». Das nostalgische Art-Déco-Café mit seinen roten Samtsesseln und der Blumentapete verfügt über eine einmalige, sinnliche Ambiance. Man fühlt sich in dieser roten Oase zurückversetzt in die 1930er-Jahre.

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Doch wie es sonst so um den Wahrheitsgehalt des Odéon-Mottos steht, haben wir mal wieder getestet. Grund dafür bot uns der Wechsel in der Küche. Seit Sommer ist Stefan Iseli der neue Chef de Cuisine, Sous-Chefin ist Sandra Jossi, gelernte Köchin und den Odéon-Gästen auch als Kellnerin bekannt. Glücklicherweise haben die zwei die Speisekarte nicht total umgekrempelt. Noch immer gibt es Wienerli mit Brot und Senf (8.50 Franken), Croque Monsieur (5.80 Franken) und lauwarmen Poulet-Curry-Salat (19.50 Franken). Das Angebot ist allerdings etwas grösser. Nach wie vor gibt Frankreich kulinarisch den Ton an, doch der Koch schielt nach Italien. Neu findet man auf der Karte drei Pastagerichte. Zum Beispiel hausgemachte Gnocchi an Tomatenwürfeln, Schalotten und Olivenöl (18.50 Franken). Da uns heute aber ganz französisch zumute ist, entscheiden wir uns für die beiden Klassiker Rindstatar (19.50 oder 27 Franken) und den Flusskrebsen-Cocktail (18.50 Franken), beides mit Toast und Butter serviert.

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Die Kellnerin, die wie all ihre Kolleginnen mit dieser reizvollen Mischung aus Nonchalance und Herzlichkeit ans Werk geht, deckt den Tisch mit zwei weissen Papiersets, Stoffservietten und Besteck. Wir sinken tiefer in die Samtsessel und unser Gespräch und nippen an einem mineralischen Chasselas von Martin Hubacher aus Twann (5 Franken). Wenig später steht der schwarz gewandete Koch Stefan Iseli persönlich mit dem kleinen grünen Blattsalat (8.50 Franken) am Tisch. Für einen kurzen Moment dachten wir, Bligg sei uns in Biel erschienen. Der Salat, angerichtet in einem kleinen Suppenteller, sieht auch hübsch aus. Ohne Firlefanz, dafür mit einer rassigen französischen Sauce angemacht und bestreut mit frischem Schnittlauch, mundet er vorzüglich. So geht es auch weiter. Da man hier seit jeher Wert auf Ästhetik legt, sind auch die beiden Hauptspeisenteller eine Augenweide. Teller ist allerdings nicht ganz richtig, denn das Tatar und der Krebs-Cocktail werden auf einer kleinen Schiefer(?)platte serviert. Das rot glänzende rohe Fleisch-Rondell kommt auf Schwarz noch besser zur Geltung, flankiert wird es von einem Butterschälchen und orange-grüner Crudités als Deko. Es schmeckt, wie es aussieht. Gespickt mit der richtigen Menge an Kapern, Essiggurken und Zwiebeln ist das Tatar schön saftig und überzeugt durch eine angenehme Säure. Etwas mehr Pfeffer oder Tabasco hätte es vertragen, zumal die Kellnerin nach der gewünschten Schärfe gefragt hatte.

Der Flusskrebs-Cocktail wird als «bon» bewertet, wie «tout» an diesem Donnerstagmittag. Man hatte es uns ja schon angekündigt.

 

Odéon Café – Bar – Restaurant Biel

Karte: klassisch-französische Brasserie-Karte, dazu Pastagerichte (auch vegetarische Varianten)

 

Preis: Vorspeisen und Snacks zwischen 7 und 20 Franken. Hauptgerichte bis 42 Franken (Rindsfiletmedaillon).

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Ambiance: einmalige, gemütlich-nobel-nostalgische Ambiance in Art-Deco-Café mit roten Samtsesseln, Blumentapete. Wie anno 1930.

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Kundschaft: Tout Bienne. Zeitungsleserinnen, Kaffeetrinker, Muschelesserinnen, Geschäftsleute, Frankophile, Hipster, Nostalgikerinnen.

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Aufgefallen: Mit seinen Nischen wunderbar geeignet für ein Tête-à-tête.

Info: Odéon, Bahnhofstrasse 31, 2502 Biel. Tel. 032 323 48 48, 

www.odeon-bienne.ch. Öffnungszeiten: Mo bis Mi: 7 bis 23.30 Uhr, Do/Fr: 7 bis 0.30 Uhr, Sa: 8 bis 0.30 Uhr, So: 10 bis 18 Uhr.

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